Neuigkeiten 14.05.2020

Offener Brief an die Landtagsabgeordneten NRW

Ein Blick auf die Krise(n) – und Implikationen für unsere Gesellschaft von morgen …

Min.

Sehr geehrte Abgeordnete des Landtags NRW, sehr geehrter Abgeordneter,

die letzten Wochen waren überaus stark vom zentralen Thema „Corona“ geprägt. Aber bereits jetzt ist spürbar, dass bei den ersten Schritten heraus aus dieser Krise sich „alte“ Wesenszüge Wege bahnen, dass aus Krisen nicht immer Neues, Verändertes erwächst, sondern manchmal auch Gewohntes, nur stärker … Dabei steckte in jeder Krise nicht nur eine Chance, sondern auch eine Möglichkeit (nach Martin Luther King). In dieser Sichtweise möchte ich Sie bitten, mir durch folgende Gedanken zu folgen:

In der Zeit Ihrer Abgeordnetenschaft ist viel geschehen: Seit dem rechtsextrem motivierten Anschlag in München im Juli 2016 (9 Tote), den Menschenjagden in Chemnitz Ende August 2018, dem tödlichen Anschlag auf Walter Lübcke im Juni 2019 geschehen, im Oktober 2019 die antisemitisch motivierten Anschläge in Halle (2 Tote) und schließlich im Februar 2020 die rechtsextrem motivierten Anschläge in Hanau (11 Tote). All diese „Fälle“ ließen sich ergänzen durch eine Reihe weiterer derartiger, extremistisch motivierter Taten. All diese Dinge wurden gestützt von Meinungsmache in digitalen Netzwerken, von populistischen Bekundungen z.T. selbst aus den Parlamenten und durch lautstarke Bekundungen auf Straßen und Plätzen. All dies war während der Corona- Krise nicht „weg“, es macht sich bereits jetzt erneut wieder Raum (abzulesen z.B. an den ersten Demonstrationen z.B. in Dortmund und Berlin) und ich sehe kaum Anlass dafür, dass die genannten Erscheinungen irgendwie „weggehen“ würden und halte es für recht wahrscheinlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann wir erneut von schrecklichen Geschehnissen hören werden.
Nach jedem einzelnen dieser Geschehnisse lese und höre ich – fast in übereinstimmendem Wortlaut von „Fassungslosigkeit“ und „Entsetzen“, von einer „neu überschrittenen Grenze“, vom Erreichen eines Punktes, an dem „niemand mehr wegsehen kann“ und an dem „durchgreifend Dinge verändert werden müssen“. In all diesen Fällen fokussiert sich die Diskussion dann - meiner Wahrnehmung nach - sehr schnell darauf, dass der Staat für Sicherheit zu sorgen habe, was dann wiederum in die Ankündigung der vermehrten Einstellung von Polizeibeamten, stärkerer Polizeipräsenz und stärkerer Überwachungs- und Strafmaßnahmen mündet (Videoüberwachung an „brisanten Stellen“ sowie stärkere Überwachung und weitergehende Gesetze zur Überwachung des Internets). Nach wenigen Tagen dann nimmt scheinbar alles seinen gewohnten Gang und auch die ersten Schritte nach dem lockdown orientieren sich zurück an Altem (Ausnahmeregelungen für Autohäuser bei Ladenöffnungen, absolute Priorisierung von Prüfungen bei Schulöffnungen usw.).
Wann, so frage ich mich, fangen wir endlich an, Dinge zusammen, übergreifend, als Ganzes zu betrachten – wann endlich stellen wir tiefergehende Fragen und suchen weitreichendere Antworten, wann endlich machen wir ernst damit, dass unser „Entsetzen“ Folgen trägt, die auch auf den zweiten Blick Sinn machen?
Mein sehr persönlicher Blick auf die Dinge - in Kürze: Die Soziologie beschreibt die moderne „westliche“ Gesellschaft als Risiko- Gesellschaft: Einerseits immer mehr Möglichkeiten (ein riesiger Konsumwarenmarkt/ nahezu unendliche Erweiterungen im Zuge der Globalisierung/ durch Spezialisierungen unzählige neue Berufe/ Öffnung von Lebensperspektiven usw.) - andererseits wegbrechende Sicherheiten (höheres Risiko auseinanderfallender Familienverbünde/ wegbrechende Bedeutung von Orientierungsinstanzen wie Kirche oder Gewerkschaften/ Vorhandensein vieler erziehungsschwacher Elternsettings/ oftmals fehlende Werte- und Normorientierungen im Umfeld von Menschen/ Entgrenzung von Arbeitsprozessen usw.). Die Folge dieser Entwicklung ist für einen großen Teil der Menschen das Risiko des Scheiterns, wenn sie die Bewältigung der Risiken und damit auch die Nutzung der Chancen nicht schaffen. Psychologen und Erziehungswissenschaftler beschreiben parallel - und passend dazu - Phänomene, wie in der Gesellschaft spür- und messbar vorhandener Aggressions-, Sucht-, Essstörungs-, Populismus- und weiterer Tendenzen vor allem bei Jugendlichen und Kindern, ebenso ein Auseinanderdriften der Gesellschaft z.B. in „Gewinner und Verlierer“ oder in „Arme und Reiche“… und eben auch in eine nicht unwesentliche Zahl von Menschen, die empfänglich ist  für vereinfachte, flache, menschenverachtende, extreme, auch gewaltaffine Weltsichten in einem gesellschaftlich „rauen“  Klima vieler Anonymitäten, in denen „man doch wohl noch sagen dürfen wird“ und in dem viele ungeniert auch sagen – öffentlich, laut, gehört.
Auf der Suche nach Ansätzen, sich den genannten Dingen zu stellen und sinnvoll handelnd Gegengewichte zu setzen, komme ich zwangsläufig auf den Bereich der institutionellen Bildung: Kinder und Jugendliche verbringen hier in der Regel und in der für wesentliche Grundhaltungen und Grundeinstellungen bedeutendsten Lebensphase mindestens über 10.000 Stunden Lebenszeit – in der Regel ist das mehr Zeit, als sie mit ihren Eltern oder wichtigen Bezugspersonen verbringen. Hinzu kommt in den meisten Fällen noch die Zeit in Kitas und Horten. Diese Zeit wird gestaltet von staatlichen Institutionen und nach den Regeln der Demokratie - diese Institutionen sind also Einflusszeiten unserer Gesellschaft auf die Lebenszeit der Kinder und Jugendlichen und in der Logik der oben skizzierten Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft ist sehr kritisch zu hinterfragen, wie genau und mit welchen Schwerpunkten wir die Lebenszeit der Kinder füllen und welche Schwerpunkte wir setzen, welche Ziele wir verfolgen und was wir für deren Umsetzungen tun.
Wo also sind die Reaktionen auf das Entsetzen? Wo sind die Maßnahmen? Wo und wie begegnen wir in Schulen den Gegebenheiten der Gesellschaft? Nach meiner Analyse finden sich in den schulsystemischen Setzungen der letzten Jahrzehnte folgende Schwerpunkte:

  1. Outputorientierung (v.a. in der Folge des „PISA- Schocks“  ab dem Jahr 2000) mit dem Fokus auf NW, Informatik, Mathematik (u.a. Veränderungen/Verschärfungen der APO-GOSt)
  2. Standardisierung [v.a. in der Diskussion um vergleichbare (aus einigen Kreisen ist manchmal auch zu hören „entwertete“) Abiture und dem immer wieder aus Teilen der Wirtschaft zu vernehmenden Beschreibungen angeblich nicht arbeits- oder studierfähiger junger Menschen]
  3. Digitalisierung (v.a. mit Fragen zu Fördermitteln, der Beteiligung des Bundes - der Länder/ der Ausstattung von Schulen mit digitalen Medien …)
  4. In NRW: Veränderung des Fächerkanons: Schaffung neuer Fächer (z.B. „Wirtschaft“/ Informatik als Fach ab Klasse 5)

Kein einziger der hier angeführten Schwerpunkte lässt sich aus meiner Sicht als logische Antwort auf die oben beschriebenen gesellschaftlichen Gegebenheiten ableiten! Damit liefern die gegenwärtigen schulischen Setzungen keine sinnhaften Lösungen!
Wie viele Menschen, so frage ich mich, stimmen wohl mit mir überein, dass es folgende grundlegende menschliche Bedürfnisse gibt:

Nahrung für den Körper. Luft. Wasser.
Ruhe. Schlaf.
Soziales Miteinander. Gemeinschaft.
Wertschätzung. Anerkennung. Emotionale Sicherheit. Nähe. Vertrauen. Verständnis.
Autonomie.
Sinnhaftigkeit. Kreativität.
Lachen. Freude.
Spielen.

Wenn Sie hier übereinstimmen: Wo finden wir in Schulen systemische Setzungen, Strategien, Handlungen, Strukturen, die ausgehend von diesen Grundbedürfnissen flächendeckend und grundlegend diese Aspekte ins Zentrum unseres schulischen Handelns stellen – neben der „Schulbildung“ im engeren Sinne?
Keine einzige der o.g. wesentlichen aktuellen systemischen Setzungen im Schulsystem erfolgte in Ableitung aus diesen menschlichen Grundbedürfnissen! Die Einbeziehung menschlicher Grundbedürfnisse in Schulen erfolgt systemisch nicht oder kaum!
Es sind bestürzende „Aussagen“, wenn bei der Öffnung von Schule während der Coronakrise mit aller Macht die Abiture (und dann etwas weniger stark priorisert die 10er Abschlüsse) in den Blick genommen und dann durchgezogen werden“, koste es, was es wolle und trotz aller ungelöster Fragen der Gerechtigkeit, während gleichzeitig nicht einmal im Ansatz ernsthaft in den Blick genommen wird, was mit Kindern geschieht, die in Verwahrlosungs-, Gewalt-, Vergewaltigungs-, Sucht- oder ähnlichen prekären Settings leben (mussten).
Ich sehe Zusammenhänge zwischen dem, was wir im Bildungssystem tun und was wir alles eben gerade nicht tun und den gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie sie oben beschrieben sind. Ich nehme viele Setzungen im aktuellen Schulsystem als unsinnig wahr, weil sie nicht Antworten geben auf Fragen, die offenkundig sind und dringend gestellt werden müssten und ich weiß um Viele im Schulsystem, die tagtäglich beobachten, wie wir Kindern und Jugendlichen nicht gerecht werden können, wie Kinder, Eltern und Kolleg*innen zusammenbrechen und die gegen die und trotz der systemischen Grundsetzungen des Schulsystems jeden Tag auf´s Neue versuchen, Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden in dem, was sie schlicht brauchen, weil es jeder Mensch braucht.
Wie oft, frage ich mich, und an wie vielen Stellen ist man einem Attentäter von Hanau, dem Menschenverächter von nebenan oder dem Populisten von morgen wohl nicht gerecht geworden - und wie oft haben wir in der Corona- Krise die übersehen, die wir morgen oder übermorgen in den Schlagzeilen wiedersehen werden ?
Ich bin fassungslos. Und entsetzt. Und kämpfe dafür, dass tiefgreifend Dinge im Bildungssystem verändert werden. Umfassend. Weitreichend. Endlich sinnhaft. Es ist höchste Zeit !

Ich bitte Sie, dies mit vollem Einsatz zu unterstützen und mir Ihre Gedanken zum Obigen mitzuteilen.
Werden Sie meine Forderungen unterstützen? Und in welcher Form werden Sie dies tun?
Ich freue mich sehr auf Ihre Antwort!

Mit herzlichen Grüßen
Carsten Piechnik

Schreiben Sie an:
P-Piec[at]web.de


Der offene Brief wurde von Carsten Piechnik, einem der Vorsitzenden im Team des GEW Stadtverbandes Herne an die Abgeordneten des Landtags NRW verschickt.
Gleichzeitig startete die dazugehörige Aktion "Frag doch mal den Abgeordneten"!
Das bedeutet: Wenn der Brief für richtig und notwendig gehalten wird, sollte man ihn an „seine*seinen“ Abgeordnete*n schicken und ihn*sie bitten, Gedanken oder Meinungen dazu zu schreiben und diese dann an die E-Mail-Adresse (s.o.) weiterleiten. Außerdem muss man darauf hinweisen, sich bitte damit einverstanden zu erklären, dass diese Meinung in der Presse und auf der GEW Herne Homepage veröffentlicht werden darf.
Unten auf dieser Seite steht der Brief und Anschreiben als download zur Verfügung.