Neuigkeiten 04.03.2018

Lehrer kritisieren miteinander konkurrierende Schulformen

Interview mit Redakteur Martin Tochtrop und unseren Vorsitzenden Kathrin van Hoften und Carsten Piechnik

Gymnasium und Gesamtschule nebeneinander funktionieren nicht, meinen Kathrin van Hoften und Carsten Piechnik vom Vorstand der Herner GEW.Ein Jahr neues GEW-Vorstandstrio, bestehend aus Kathrin van Hoften und Carsten Piechnik von der Erich-Fried-Gesamtschule sowie Ralph Stenzel vom Otto-Hahn-Gymnasium. Wir sprachen mit Kathrin van Hoften und Carsten Piechnik.

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Wie lautet Ihre Bilanz, eher frustrierend oder eher erfolgreich? Was meinen Sie innerhalb eines Jahres bewegt zu haben?

Carsten Piechnik: Das letzte Jahr war ja Wahljahr. Deshalb haben wir versucht, die Politiker an ihre Aufgaben zu erinnern und ihnen vor Augen zu führen, wie zum Teil katastrophal die Situation an den Schulen ist und was wir aus den Kollegien gemeldet bekommen. Wie erfolgreich so etwas ist, kann man nicht sagen, weil sich die Dinge im politischen Bereich immer nur sehr langfristig verändern. Wir hoffen, zumindest den einen oder anderen Anlass zu möglichen Veränderungen gegeben zu haben.

Da gab es ja beispielsweise das Projekt der Schülerbefragung.

Carsten Piechnik: Unter anderem. Wir haben aber auch als GEW immer wieder über unseren Landesverband versucht, mit den aktuellen Problemen in die Öffentlichkeit zu gehen. Wir haben Diskussionen zum Beispiel mit Landtagsabgeordneten veranstaltet, wo wir die Kernprobleme zum Thema gemacht haben. Darüber hinaus haben wir uns in den Tarifverhandlungen massiv engagiert. Da hat es auch, so glaube ich, einen ganz guten Tarifabschluss gegeben.

Da geht es ja auch immer um den großen Unterschied der Gehälter zwischen angestellten und verbeamteten Lehrern.

Kathrin van Hoften: Für die Angestellten ist eine Stufe sechs eingeführt worden, bislang gab es nur fünf. Das ist in der Tat als Schritt in die richtige Richtung zu bewerten. Dadurch ist die Schere zwischen Angestellten und Beamten etwas kleiner geworden.

Der Unterschied soll hier bei etwa 500 Euro liegen.

Kathrin van Hoften: Ja das stimmt, 500 Euro netto bei Oberstufenlehrern.

Wobei die meisten Lehrer ja Beamte sind.

Kathrin van Hoften: Sicherlich, aber es gibt zunehmend Quereinsteiger, gerade in Zeiten der Lehrerknappheit. Die bringen teilweise gar nicht die Voraussetzungen mit, verbeamtet zu werden, haben kein zweites Staatsexamen und werden im Vergleich zu den verbeamteten Lehrern viel schlechter bezahlt.

Carsten Piechnik: Außerdem haben wir die A-13-Kampagne unterstützt, Grundschullehrer sollen mit der Besoldungsstufe A 13 anfangen und nicht mehr mit A 12, weil sie eine vergleichbare Ausbildung wie Sekundarstufe-I-Lehrer haben. Das hat offenbar politisch gewirkt, wie man hört.

Einsteiger bekommen nun A 13, Grundschullehrer mit Berufserfahrung dagegen nur A 12. Ist das nicht ungerecht?

Carsten Piechnik: Das wird sicherlich Thema unserer nächsten Tarifauseinandersetzung sein.

Als Argumentation für die GEW dient die enorme Arbeitsverdichtung. Wie drückt sich diese in plastischen Beispielen aus?

Carsten Piechnik: Die meisten Leser werden noch eine Schule nach altem Format kennen, wo die Aufgabenbeschreibung deutlich weniger vielschichtig war. Das heißt, dass die Besonderheiten, die eine Gesellschaft ausmacht, weniger abgebildet werden mussten. Es gab weniger Patchworkfamilien, weniger berufliche Werdegänge bei den Eltern, die alle zwei Jahre wechseln. Die Biografie von Eltern hat sich deutlich geändert, früher war man 30 Jahre im gleichen Job. Die Problemlagen in der Gesellschaft sind vielschichtiger geworden und damit die Aufgabenübertragung an die Schulen.

Immer differenzierterer Unterricht zum Beispiel.

Carsten Piechnik: Es ist ja zur Regel geworden, dass Kinder mit Förderbedarf – also mit bestimmten Behinderungen beispielsweise – durch die Inklusion mit in den Regelklassen sitzen. Wobei viele Lehrer dafür eigentlich gar nicht ausgebildet sind. Es sind Kinder in den Klassen, die gar nicht in Deutschland aufgewachsen sind, gar nicht alphabetisiert sind, zum Teil traumatisiert. Auch diese Kinder müssen begleitet werden. Das ist mehr, als „nur“ Mathe oder Englisch mit den Kindern zu machen. Da geht es ganz viel um Beziehungen schaffen, um Sicherheiten schaffen, um Nähe, um Begleitung in persönlichen Dingen. Wenn da mal Tränen fließen, ist man nicht einfach nur Mathelehrer.

Kathrin van Hoften: Man muss viel mehr auf die individuellen Fähigkeiten der Schüler eingehen. Ich bin Deutschlehrerin. Ich habe da Kinder im Unterricht, die haben gerade mal die ersten Worte gelernt. Gleichzeitig sitzen da Kinder mit Lernbehinderungen. Man kann heutzutage das Unterrichtsmaterial nicht mehr für die ganze Klasse gleich gestalten. Man muss stärker differenzieren und stärker individuell unterstützen.

Wie schätzen Sie die Arbeit speziell in Herne ein? Hier gibt es ja einen vergleichsweise hohen Anteil von Schülern mit ausländischen Wurzeln. Erschwert das ihre pädagogische und didaktische Arbeit?

Carsten Piechnik: Die Betrachtung nach Nationalitäten ist Quatsch. Es ist egal, ob ein Kind hier oder woanders geboren ist. Das sagt überhaupt nichts aus. Man muss auf jedes einzelne Kind gucken, welche Bedürfnisse es hat. Man muss Schule so gestalten, dass sich dort jedes Kind wohl fühlt und sein Leben dort gelingend gestalten kann. Alle anderen Fragen führen letztlich zu Menschenverachtung. Für uns ist es ein Problem, dass die Schulen unterbesetzt und die Voraussetzungen und Ressourcen für diese Art von Arbeit meist desaströs schlecht sind. Wenn ich bei 30 Kindern stärker individualisieren möchte, dann muss der Umgang 30mal verschieden sein, zumindest vom Ideal her. Stattdessen gibt es zentrale Prüfungen. Zum einen müssen die Kinder im Englischunterricht sprachkompetent sein, dass sie alles verstehen können und sich auf hohem abstrakten Niveau verständigen können, und daneben sitzt ein Schüler, der gerade die ersten zwei Worte Deutsch lernt. Der will auch begleitet werden. Und das alles mit fehlendem Personal und Material und zu wenigen Räumen.

Unsere Forderung lautet also, wir brauchen mehr Lehrer, ein insgesamt anders gedachtes, widersspruchsfreies Gesamtsystem und geeignete Ressourcen.Wir müssen endlich die Widersprüche aus dem System entfernen. Man kann kein Schulsystem aufrecht erhalten, das auf der einen Seite darauf ausgelegt ist, zu selektieren, nur wer sein Abitur hat, der darf studieren und sonst „Pech gehabt“, und das auf der anderen Seite Inklusion - also genau das Gegenteil - praktiziert. Ein System, das zuerst auf Individualisierung setzt und am Ende dennoch zentrale Prüfungen durchführt, ist auch an dieser Stelle widersprüchlich.

Kathrin van Hoften: Das Problem ist ja auch, dass die Schulformen miteinander konkurrieren. Die Konsequenz daraus ist, dass die Gesamtschulen stärker die Funktion erfüllen müssen, die früher die Hauptschulen inne hatten. Die Gesamtschulen sind viel stärker in die Inklusion involviert, sie haben viel mehr mit Kindern zu tun, die große Unterstützung beim Lernen benötigen. So war das ursprünglich nicht gedacht. Die Gesamtschule war als eine Schule für alle Kinder gedacht.

Wenn wir das Schulsystem verbessern wollen, brauchen wir individuellere Förderung, wie Sie sagen. Dann brauchen wir entsprechend mehr Lehrer. Aber wie lassen sich diese gewinnen?

Carsten Piechnik: Da hat die Landespolitik lange Zeit geschlafen und zum Beispiel nicht genügend Studienplätze geschaffen. Wir haben immer noch die paradoxe Situation, dass wir auf bestimmte Studienfächer einen Numerus Clausus haben. Und immer noch eingeschränkte Referendar-Plätze. Da kann man nicht einfach mit dem Finger schnipsen. Auch die Universitäten brauchen die Infrastruktur und die Professoren, um entsprechend mehr Lehrer auszubilden. Lehrer wachsen nicht einfach auf der Straße. Die aktuellen Notlösungen mit Seiteneinsteigern beispielsweise sind nicht unbedingt die sachdienlichsten. Das ist auch eine Frage des Umgangs mit unseren Kindern. Man setzt sich ja auch nicht gerne in einen Lufthansa-Jet, in dem ein Pilot sitzt, der gerade mal ein Praktikum gemacht hat. Wer sagt, Kinder sind das Wichtigste, das wir haben, der sollte an dieser Stelle auch konsequent sein.

Einen Stein der Weisen hat die GEW anscheinend nicht, was die Lösung der Probleme angeht.


Kathrin van Hoften: Eine größere Solidarität der Schulen untereinander würde schon eine Menge bringen. Zum Beispiel, dass an den Gymnasien auch andere Abschlüsse ermöglicht werden und nicht wie jetzt, dass Schüler nach zwei Jahren die Schule wechseln müssen, wenn die Noten nicht passen. So kämen wir auch zu einer besseren Verteilung der Schüler. Im Moment sieht es so aus, dass sehr viele Schüler vom Gymnasium abgeschult werden, wie man sagt, und dann an den Hauptschulen und Gesamtschulen untergebracht werden müssen.

Carsten Piechnik: Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und den Kompromiss, auf den man sich vor Jahren geeinigt hat, in Frage stellen. Wir haben zwei konkurrierende Systeme. Auf der einen Seite eine „Schule für alle“ mit der Gesamtschule und auf der anderen Seite mit Gymnasium/ Realschule/Hauptschule ein die Kinder nach angeblichen Begabungen gliederndes System. Das kann meiner Ansicht nach nicht funktionieren – das hat die Geschichte bei den Hauptschulen bereits gezeigt. Das System steht zurzeit in Teilen vor dem Zusammenbruch – einschließlich vieler in ihm lebender Kinder und Lehrer.

WAZ plus (nur mit Anmeldung):
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