Neuigkeiten 06.07.2020

... in der Krise ist nach der Krise ... ist vor der Krise …

Carsten Piechnik veröffentlicht bei der GGG seine persönliche Sicht zur Coronakrise und zieht Parallelen zur Bildungs- und Gesellschaftskrise.

Min.

Text aus der Zeitschrift ISA 2020/2 der GGG, Verband für Schulen des gemeinsamen Lernen e.V., mit wenigen Änderungen. Der Text aus der Zeitschrift steht auch unten auf der Seite als download bereit.

Ein Virus, COVID-19, löst eine Krise aus – auch im Bildungsbereich. Politische Entscheidungen sollen der Krisenbewältigung dienen. Was bedeutet das für unsere Schulen?
Hier berichtet der Autor aus seiner ganz persönlichen Sicht.
CARSTEN PIECHNIK

Zu Beginn des Corona-Lockdowns machten einige Texte sehr erfolgreich die Runden durch digitale Netzwerke. Einer, den ich gleich mehrfach und von verschiedenen Menschen zugeschickt bekam, hieß „Es könnte sein“1)

„Es könnte sein, dass in Italiens Häfen die Schiffe für die nächste Zeit brach liegen,
... es kann aber auch sein, dass sich Delfine und andere Meereslebewesen endlich ihren natürlichen Lebensraum
zurückholen dürfen. Delfine werden in Italiens Häfen gesichtet, die Fische schwimmen wieder in Venedigs Kanälen!
Es könnte sein, dass sich Menschen in ihren Häusern und Wohnungen eingesperrt fühlen,
... es kann aber auch sein, dass sie endlich wieder miteinander singen, sich gegenseitig helfen und seit langem wieder ein Gemeinschaftsgefühl erleben. Menschen singen miteinander!!! Das berührt mich zutiefst! […]
Es könnte sein, dass dich das auf irgendeine Art und Weise überfordert,
... es kann aber auch sein, dass du spürst, dass in dieser Krise die Chance für einen längst überfälligen Wandel liegt,
- der die Erde aufatmen lässt,
- die Kinder mit längst vergessenen Werten in Kontakt bringt,
- unsere Gesellschaft enorm entschleunigt,
- die Geburtsstunde für eine neue Form des Miteinanders sein kann, […]
- und uns zeigt, wie schnell die Erde bereit ist, ihre Regeneration einzuläuten, wenn wir Menschen Rücksicht auf sie nehmen und sie wieder atmen lassen.
Wir werden wachgerüttelt, weil wir nicht bereit waren es selbst zu tun. Denn es geht um unsere Zukunft.“

Kurze Zeit später machte ein Text von Matthias Horx ebenfalls sehr prominent die Runde: „Die Welt nach Corona“2). In dem Text legt Horx dar, dass die Zeit nach Corona niemals so sein werde wie die Zeit vorher. Seiner Meinung nach ist die Corona- Krise eine „Tiefenkrise“ – ein „historischer Moment, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert“. Er beschreibt z.B. zwei „Visionen“, die das Virus ermöglicht hat, einmal die musizierenden Italiener auf den Balkonen und zum anderen die Satellitenbilder, die die Industriegebiete Chinas frei von Smog zeigten – derartige Tatsachen würden „etwas mit uns machen“ - und damit drückt er vermutlich wissenschaftlicher formuliert das aus, was „Es könnte sein“ auch meint. Hat Dich, lieber Leser, das auch so berührt wie mich?

Hoffnung vs Realitäten
Für meinen Arbeits- und Lebensbereich „Schule“ hat es Hoffnung genährt – es hat den Gedanken keimen lassen, dass „nach Corona“ und angestoßen durch diese Krise auch im Bildungsbereich neue Einsichten Raum finden würden, neue Gedanken, neue Schwerpunkte, neue Fragestellungen – denn dort spielt sich – nach meiner Analyse – seit langem schon ebenfalls eine dramatische Krise ab – leiser, subtiler, nicht unmittelbar tödlich, aber dramatisch, wenn man genauer hinsieht:
Es ist nicht lange her, dass die meisten von uns fassungslos die Geschehnisse von Hanau verfolgt haben – noch in Erinnerung die rechtsextrem motivierten Anschläge in München (Juli 2016 - 9 Tote), die Menschenjagden in Chemnitz (Ende August 2018), den tödlichen auf Walter Lübcke (Juni 2019) und die antisemitisch motivierten Anschlag Anschläge in Halle (Oktober 2019 - 2 Tote). Eine Welle der Bestürzung war vernehmbar und überall konnte man – fast in übereinstimmendem Wortlaut - von „Fassungslosigkeit“ und „Entsetzen“, von einer „neu überschrittenen Grenze“, vom Erreichen eines Punktes, an dem „niemand mehrwegsehen kann“ und an dem „durchgreifend Dinge verändert werden müssen“ hören und lesen.

Lebenswelt Schule
Parallel dazu erleben viele Lehrer*innen tagtäglich weitere Phänomene an und mit „ihren“ Kindern und Jugendlichen, die durchgehend alle von der Wissenschaft relativ umfassend beschrieben und untersucht worden sind und die man als Zeichen einer Gesellschaftskrise deuten kann: Settings von auseinanderfallenden Familienverbünden, wegbrechender Bedeutung von Orientierungsinstanzen wie Kirche oder Gewerkschaften, Vorhandensein vieler erziehungsschwacher (oder im Gegenteil dominierend erdrückender) Elternsettings, oftmals fehlenden Werte- und Normorientierungen, Entgrenzungen von Arbeitsprozessen usw. – das alles bei gleichzeitig scheinbar grenzenlos vorhandenen Möglichkeiten: Settings eines riesigen Konsumwarenmarktes, nahezu unendlicher Erweiterungen im Zuge der Globalisierung, durch Spezialisierungen unzählige neue Berufe, Öffnung von Lebensperspektiven usw., wobei die Verteilung dieser individuellen Chancen ungleich ist (sie ist z.B. für Kinder mit Migrationshintergrund oder aus prekären sozialen Verhältnissen massiv schlecht, wie z.B. die PISA- Studien seit 20 Jahren belegen).
Parallel – und passend dazu – erleben zahlreiche Kolleg*innen in ihren Klassen und Kursen Phänomene wie Aggressions-, Sucht-, Essstörungs-, Populismus- und weiterer Tendenzen, ebenso ein Auseinandergedriftet-Sein der Gesellschaft z.B. in „Gewinner und Verlierer“ oder in „Arme und Reiche“.

Bildungskrise in der Gesellschaftskrise
In dieser Sichtweise erleben viele im Bildungswesen Tätigen oder davon Betroffenen diese Geschehnisse als etwas, das hier Bildungskrise genannt werden soll – mit erschreckenden Parallelen zu Krisen wie eben der Corona- oder der Klimakrise – hierzu folgende Thesen3):

  1. Krisen neigen dazu, lange Zeit „vor sich hin zu kriseln“, bis irgendwann ein „point of no return“ erreicht ist, an dem Maßnahmen nur noch sehr schwierig oder gar nicht mehr umsetzbar sind.
  2. Krisen neigen dazu, bestimmte Gruppen zunächst nicht so sehr zu treffen wie andere, was dazu führt, dass das Interesse an Lösungen der Krise zunächst nicht gleich stark überall in der Gesellschaft verteilt ist. Dauert der Prozess der Erkenntnis, dass alle betroffen sind, zu lange, steigt die Gefahr, dass 1) eintritt.
  3. In der öffentlichen Verantwortung Stehende neigen dazu, Krisen zu negieren oder klein zu reden – so lange, bis die Folgen so dramatisch sind, dass sie nicht mehr zu leugnen sind – oft ist 1) dann bereits ebenfalls erreicht.
  4. Krisen haben oft die Eigenschaft, dass sie in ihrer Art so neu sind, dass ein Blick auf sie durch „alte Brillen“ nicht hilft – für diejenigen, die die „alten Brillen“ nicht abzusetzen in der Lage sind, erschließt sich oft nicht einmal die Problematik.
  5. Krisen haben die Eigenschaft, schonungslos offen zu legen, was uns als Gesellschaft eigentlich wichtig ist – und was nicht. In Krisen stehen sich die Interessen Einzelner und die der Gemeinschaft insgesamt in besonderer Weise gegenüber – anders als im Lebensalltag sonst, sehr oft können existentielle, übergreifende Krisen nur gelöst werden, wenn das Gemeinwohl höher gewichtet wird als die Vorteile von Einzelnen.
  6. Krisen-Lösungsansätze können im Grundsatz nach zwei Prinzipien erfolgen:a) auf einem autoritären, Top-Down-Anweisungs-Weg mit Überwachung und Bestrafung (der Staat weist an, was alle zu tun haben, und überwacht) undb) auf einem vernunfts- und wissenschaftsorientierten Weg der Überzeugung und dem Zutrauen auf „Empowering“ möglichst aller Menschen (die Gesellschaft ist orientiert daran, offen und ehrlich Fakten zur Verfügung zu stellen, alle vertieft zu informieren und zuzutrauen, dass alle sich entsprechend verhalten).
     

Offenbarungen in der Politik
Waren schon vor der Coronakrise die „großen“ schulisch-systemischen Setzungen
•    Outputorientierung (v.a. in der Folge des „PISA- Schocks“ ab dem Jahr 2000) mit dem Fokus auf NW, Informatik, Mathematik
•    Standardisierung
•    Digitalisierung
•    Veränderung des Fächerkanons: Schaffung neuer Fächer (z.B. „Wirtschaft“/ Informatik als Fach ab Klasse 5)
nicht einmal ansatzweise darauf angelegt, die oben beschriebenen Aspekte der Gesellschaftskrise in den Blick zu nehmen oder gar  anzugehen, zerschlagen sich jetzt bei dem Versuch, einen Weg aus der Krise zu finden, für das Bildungswesen schlagartig alle Hoffnungen à la „Es könnte sein“ und Horx: Alle getroffenen Maßnahmen setzen als oberstes Ziel, die anstehenden Prüfungen „durchzuziehen“ – koste es, was es wolle. Alle anderen Probleme (verwahrloste Kinder in abstrusen häuslichen Situationen, Kinder in Gewaltsituationen, Vereinsamungstendenzen, Kinder mit Angst usw.) scheinen Parallelen zur Corona-Kreise offenbar nicht oder nicht so wichtig zu sein. Geht man in dieser Sichtweise die o.g. sieben Thesen durch, kann man die Fassungslosigkeit, die Enttäuschung, die Trauer und Wut vieler Menschen, gerade auch im Bildungssystem, verstehen. Die Entscheidungen, die jetzt von der Politik getroffen werden, sind Aussagen: Sie zeigen den Geist derer, die die Entscheidungen getroffen haben ebenso, wie was ihnen wichtig ist und was nicht, sie zeigen Sichtweisen und Grundhaltungen, sie zeigen das Negieren, Ignorieren und Leugnen von dramatischen Entwicklungen, sie zeigen den Versuch, völlig neue Situationen mit den Mitteln von Vorgestern zu lösen und nicht mit den Mitteln des Empowerings, sie zeigen, dass bestimmte Dinge nicht im Blick bestimmter Gruppen sind oder dass ein Angehen nicht in ihrem Interesse liegt und sie könnten gut Zeichen dafür sein, dass der „Point of no return“ für viele Menschen und vielleicht auch für gesellschaftlich-demokratische Strukturen schon sehr, sehr nahe ist.

Protest
Darum geht der „Offene Brief an die Abgeordneten des Landtags“ ebenso wie die Aktion „Frag doch mal den Abgeordneten“ in die nächste Runde – und hofft darauf, dass Du, liebe*r Leser*in, die Gedanken teilst und die Aktion mit unterstützt: Frag doch mal Deine*n Abgeordneten!

Wir hoffen sehr, dass Antworten auf dem Niveau von „aber das Zentralabitur ist doch wichtig“ oder „Es gibt kein gerechteres Abitur als jenes, das mit Prüfungen zustande kommt“, die in ihrer Schlichtheit allein schon Anlass und Grund geben zu großer Sorge, uns allen erspart bleibt.
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1)Autorin Tanja Draxler– hier in Auszügen, seit dem 18.03.20 von der Autorin veröffentlichter geänderter Text auf ihrer homepage
2)Zu lesen auf der Website von Matthias Horx
3)In Teilen inspiriert durch Vivian Dittmar: Zwei Krisen – acht Parallelen

Rückmeldungen an den Autor: Carsten Piechnik oder über unsere Homepage: Offener Brief an die Landtagsabgeordneten NRW