Neuigkeiten 08.06.2020

Gefährliche Öffnung der Grundschulen für alle Kinder gefährdet die Gesundheit aller Beteiligten

Beeindruckend schildert eine Grundschulkollegin der GEW Herne, wie der Alltag mit allen Kindern in den Klassen aussehen kann und welchen Gefahren Lehrer*innen und Kindern ausgesetzt werden.

Min.

Sehr geehrte Frau Gebauer, sehr geehrter Herr Richter,

der Stadtverband Herne der GEW NRW übersendet Ihnen stellvertretend für viele Kolleginnen aus Herne einen Brief einer betroffenen Herner Grundschullehrkraft:

„Sehr geehrte Frau Gebauer,
ich habe mich an den Laptop gesetzt, um Ihnen einmal meine derzeitige Stimmung zu schildern. Obwohl Wochenende ist, bin ich um halb 7 aufgewacht.... Gott sei Dank, denn ich hatte die ganze Nacht schlimme Träume. Träume davon, wie es wohl werden wird ab dem 15.6., wenn meine 28 Schulkinder mit mir viele Stunden in einem kleinen Klassenraum verbringen werden.

Ich glaube, Sie wissen gar nicht wirklich, was Sie da von uns Lehrer*innen und Schulleiter*innen, Eltern und Schulkindern verlangen.

Zunächst einmal möchte ich Ihnen Recht geben. Ja! Es ist besonders für Grundschulkinder sehr wichtig, dass das „normale“ Schulleben wieder startet. Sie brauchen die Schule und besonders die sozialen Kontakte! Es ist für ihr Wohlbefinden wichtig, andere Kinder zu sehen, mit ihnen zu spielen und auch gemeinsam zu lernen. Das Gleiche gilt im übrigen auch für alle Lehrer*innen!!! Es ist für uns auch einfacher, vor Ort zu unterrichten, denn das können wir. Lernen auf Distanz zu organisieren, Videokonferenzen, Padlets erstellen, telefonische Elternberatung am Telefon, telefonieren mit Kindern (haben Sie schon einmal mit einem 6-jährigen Kind telefoniert? Da kommt nicht viel.....)   - das war alles Neuland für uns. Aber wir haben uns damit arrangiert (im übrigen mit unseren eigenen Endgeräten!!) und wir haben es im Großen und Ganzen ganz gut hinbekommen. Zurzeit kommen wir alle irgendwie klar: Die Kinder haben Pläne und Material, an dem sie arbeiten. Eltern wissen genau, wann die Kinder zur Schule kommen und können sich darauf einstellen. Kinder von Eltern aus „systemrelevanten Berufen“ besuchen die gut organisierte Notbetreuung. Lehrer*innen erleben den Schulalltag anders und ungewohnt, aber können damit umgehen. Schulleitungen sind schon dabei, sich um das neue Schuljahr zu kümmern.
Fazit: Wir leben mit Abstand, häufigem Händewaschen, Desinfizieren der Räume und Materialien und insgesamt größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen im „rollierenden Verfahren“ zusammen in der Schule. Alles sehr unbefriedigend, aber es läuft! Wir fühlen uns RELATIV sicher, weil wir Abstand halten können und die Räume gut gelüftet sind. Die Notgruppen verbringen viel Zeit draußen bei dem schönen Wetter.

ABER:
Wir haben eine weltweite Pandemie (das sollten wir nicht vergessen!)

Dann kommen Ihre zahlreichen Schulmails – gerne kurz vor dem Wochenende... !

Diese stellen die getroffenen Vorkehrungen auf den Kopf. Jetzt sollen wir plötzlich so tun, als gäbe es Corona gar nicht mehr ( zumindest in den Grundschulen....!?). Ohne Sicherheitsabstand und ohne Masken??? Wie kann das sein? Vor dem Supermarkt muss ich weiterhin mit Mundschutz auf einen Einkaufswagen warten, damit ich meine Einkäufe tätigen kann ...!!
 
Haben Sie schon einmal einen (ganzen) Vormittag in einer Klasse mit 28 Kindern verbracht? Mein Klassenraum ist schon relativ groß im Vergleich zu anderen und trotzdem ist es sehr eng. Woanders dürfen sich nur 10 Personen versammeln und wir sind hier gleich dreimal so viele. Andere Studien als die, die Sie zitieren, belegen, dass Kinder auch unter 10 Jahren genauso ansteckend sind wie Erwachsene.

Wenn man mit 28 I-Männchen in einer Klasse sitzt, läuft es nicht immer so friedlich und durchstrukturiert ab wie Außenstehende sich das vielleicht vorstellen.
Es passieren ständig unvorhergesehene Dinge. Hier ein paar Beispiele:

  • Tom ist sauer, weil ihm Sarah das Radiergummi geklaut hat. Er haut sie, sie haut zurück. Sie prügeln sich. Natürlich kläre ich den Streit und bin MITTENDRIN...
  • Tim heult, weil er zu seiner Mama möchte.... Ich tröste ihn und bin MITTENDRIN...
  • Linda wird schlecht. Sie erbricht sich über den Tisch und in den Tornister.... Ich säubere alles und bin MITTENDRIN.....
  • Luis schafft es nicht mehr zum Klöchen.... Ich suche ihm Ersatzklamotten, ziehe ihn um  und tröste ihn... und bin MITTENDRIN.
  • Tina hat kein Frühstück dabei.... Ich organisiere ihr etwas und bin MITTENDRIN....
  • Paul ist gestürzt und hat sich das Knie aufgeschlagen. Ich hole ihm ein Pflaster .... und bin MITTENDRIN ....
  • Chantalle braucht Hilfe bei einer Mathe-Aufgabe. Natürlich helfe ich ihr und bin MITTENDRIN ...

Ich könnte noch viele Punkte dazuschreiben. Im Normalfall regele ich solche Situationen souverän. Aber jetzt weiß ich nicht, ob vielleicht eins der Kinder infiziert ist. Ich würde gerne Abstand halten, statt MITTENDRIN zu sein. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass es auch mir als Lehrerin nicht gelingen wird, Abstand zu den Kindern zu halten. (Untereinander wird es schon gar nicht gehen, denn sie sitzen ja zu zweit an einem Tisch.)

Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass es nach der Schule in der OGS so gut wie unmöglich sein wird, die Gruppen nicht zu mischen. So viel Räume und so viel Personal stehen gar nicht zur Verfügung...!

Es ist so unverständlich, wie wir als Lehrer*innen plötzlich so tun sollen als wäre alles wieder gut...!!!!
Sie schicken uns zu einer zweiwöchigen Corona-Party nicht „mit 10 Besaufskis und Bollerwagen“ (nach WDR aktuell APP vom 6.6.20 Zitat Herr Minister Stamm im heute journal 5.6.20) sondern mit mehr als 25 Kindern in Räumen, deren ausreichende Belüftung fragwürdig ist. Und das kurz vor den Ferien... Möchten Sie dafür verantwortlich sein, wenn sich Kinder und auch Lehrer*innen anstecken und den Virus an Familienmitglieder oder Urlaubsbekanntschaften weitergeben?? Warum jetzt zu diesem Zeitpunkt, Frau Gebauer? Warum nicht Warten auf das Ende der Studie des Bochumer Universitätsklinikums und deren Ergebnisse, die Aufschluss darüber geben sollen, wie groß das Risiko in Schulen und Kindergärten für alle Beteiligten ist. Warum nicht warten bis nach den Ferien? Man könnte planen, wie man gut verträgliche Lösungen mit Abstand finden kann, sodass wieder mehr Unterricht stattfindet. Evt. könnte man auch Plexiglas-Wände organisieren, oder, oder, oder...!!!!

Aber nein – plötzlich – Schule für alle Grundschulkinder... Mit Corona im Nacken....

Halten Sie das für verantwortlich?

Zum Schluss noch ganz privat....

  • Mein Mann (65 Jahre alt mit einer Krebs-Vorerkrankung) fühlt sich gar nicht gut, wenn ich bald mit 28 Kindern viele Stunden in einem Raum verbringe und dann zu ihm nach Hause komme.
  • Meine Geburtstagsfeier (im kleinen Kreis) werde ich absagen. Ich möchte nicht Schuld sein, dass meine 78 jährige Mutter und meine krebskranke Schwester sich eventuell bei mir anstecken...!!!
  • Ich habe in den Ferien zweimal eine Woche Urlaub in Deutschland gebucht. Ich bin ziemlich urlaubsreif und würde diese zwei Wochen gerne genießen können, um danach wieder gerüstet zu sein für neue Herausforderungen.  
  • Ich würde auch gerne meine Freunde treffen.... aber wer tut das seinen Freunden nach solchen täglichen Ansteckungsmöglichkeiten schon an??
  • Ich lade Sie gerne ein, ab dem 15.6. einmal einen ganzen Schulvormittag mit mir und meinen 28 Kindern in meinem Klassenraum zu verbringen. Einen Mundschutz brauchen Sie nicht mitzubringen! Das ist in der Grundschule nicht nötig. Sie dürfen mir auch gerne nahe kommen, denn in der Grundschule gilt die Abstandsregel nicht.

Und bitte verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin sehr, sehr gerne Lehrerin und liebe meinen Beruf, aber die Bedingungen machen es mir sehr schwer. Da habe ich wirklich Angst vor der weiteren Verbreitung des Virus.

Mit freundlichen Grüßen
Kollegin X aus Herne

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Sehr geehrte Frau Gebauer, sehr geehrter Herr Richter,

wir als Stadtverband der GEW in Herne, sind der Meinung, dass der Plan nicht zu Ende gedacht ist.

Interessant ist dazu auch der Artikel (Zeit online), in dem sich Frau Karliczek am 6.6.20 zum Thema „Schulöffnungen“ äußerte:

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) warnt ihre Kolleginnen und Kollegen in den Ländern vor einem überhasteten Wiedereinstieg in den normalen Schulbetrieb. "Solange wir noch keinen Impfstoff gegen Covid-19 haben, muss auch an den Schulen weiter allergrößte Vorsicht herrschen, um strukturierten Unterricht anbieten zu können", zitiert der Spiegel die CDU-Politikerin. Es müsse weiter alles getan werden, damit die Schulen nicht zu Infektionsherden werden.

Hier finden Sie den ganzen Artikel der ZEIT

Bestimmt hoffen Sie auch, dass nach den Sommerferien alle Lehrer*innen wieder gesund sind.

Wir sind der Meinung, dass über die Entscheidung zur Schulöffnung der Grundschulen für 10 Tage Unterricht erneut nachgedacht werden sollte mit dem Ziel, die Öffnung auf nach den Sommerferien zu verschieben.
 
Mit freundlichen Grüßen
Stadtverband Herne