Neuigkeiten 13.11.2021

Der neue „schulscharfe Sozialindex“ – und was zu befürchten steht

Unsere Hoffnung war groß, dass endlich die betroffenen Kinder mehr Hilfen erhalten, die sie dringend benötigen, ebenso wie die überbelasteten Lehrer*innen, die personelle Unterstützung brauchen.

Min.

Am Ende einmal mehr verraten und verkauft – Kinder wie Lehrer*innen?

Seit Jahren schon haben wir als GEW-Herne ihn gefordert, den „schulscharfen Sozialindex“. Hintergrund war, dass die vor allem personelle Ausstattung von Schulen über viele Jahre hinweg ganz oder vorwiegend aus der schlichten Anzahl an Kindern an einer Schule resultierte. Keine oder kaum eine Rolle spielte es, wie die Zusammensetzung der Kinder und damit auch die „Aufgabenlast“ an den verschiedenen Schulen war. Wie viele der 1000 Kinder einer bestimmten Schule waren überhaupt in der Lage, Deutsch zu sprechen? Und wie viele verschiedene Sprachen fanden sich insgesamt? Und waren die Kinder alphabetisiert, und wenn ja, dann in der lateinischen Sprache oder z.B. mit kyrillischer Schrift oder mit chinesischen Schriftzeichen? Wie viele der Kinder benötigten aufgrund von körperlichen Einschränkungen besondere Hilfen – oder aufgrund von geistigen Entwicklungsproblemen? Und wie viele erlebten ihre Kindheit in Armutsverhältnissen oder hatten traumatische Geschichten erleben müssen und benötigten psychologische Hilfen?
Dies alles spielte keine oder kaum eine Rolle z.B. bei der Zuweisung von Lehrer*innenstellen für eine Schule - wenngleich doch jedem sofort ersichtlich war, dass die Anforderungen im Umgang mit eben diesen besonderen Schüler*innen- „Geschichten“ für die verschiedenen Schulen besondere Herausforderungenund auch Belastungen bedeuteten, für die sie auch besonders viele Ressourcen benötigen würden, damit die Bedürfnisse und Bedarfe der Kinder angemessen berücksichtigt würden können .

Aber nach der Veröffentlichung der Auswertungen kam das Entsetzen und unsere Befürchtungen wurden wahr.

Endlich - so dachten wir in unserer grundlosen Naivität - nach vielen Jahren dieser Gleichbehandlung von völlig ungleichen Bedingungen, ging eine Landesregierung auf die Forderungen ein und führte ganz aktuell den „schulscharfen Sozialindex“ ein. Hierbei soll jede Schule nach ihren tatsächlichen Belastungen in 9 „Stufen“ eingeteilt werden (Stufe 9 = sehr hohe Belastung). In die Einstufung fließen folgende Kriterien ein:
1)    Wie viele SuS einer Schule leben in Familien, die Sozialhilfe beziehen?
2)    Wie hoch ist der Anteil der SuS einer Schule, in deren Familien nicht deutsch gesprochen wird?
3)    Wie viele SuS sind an einer Schule aus dem Ausland zugezogen?
4)    Wie viele Kinder einer Schule haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf in den Bereichen „Lernen“, „emotionale und soziale Entwicklung“ und/oder „Sprache?

Unsere Hoffnung war groß, dass mit dieser Ankündigung endlich die betroffenen Kinder mehr der Hilfen erhalten dürften, die sie dringend benötigen, ebenso wie die Lehrer*innen, die in der Vielzahl und bei der Schwere der Aufgaben oft irgendwann einfach „umgefallen sind“ in dem Versuch, für die Kinder zu leisten, was einfach nicht leistbar war.
Doch ebenso groß wie unsere Hoffnung war sind nun – nach der Veröffentlichung des Index – zuerst unser Entsetzen, dann unsere Befürchtungen:
Von den insgesamt 4158 Schulen des Landes (alle Schulformen) sind 23,7% in Stufe 1 eingeteilt worden, 30,97% in Stufe 2. Damit sind also 54,7% in Stufen „gelandet“, die nach erstem Anschein keine oder nur sehr geringe Belastungen haben. Rechnet man dann aus, wie es denn am anderen Ende der Skala aussieht, findet man 0,50% der Schulen in Stufe 8 eingruppiert und 0,19% in Stufe 9 – den insgesamt 54,7% offenbar „unbelasteten“ Schulen stehen insgesamt also 0,69% sehr belastete Schulen gegenüber.
Bei Gymnasien sieht das Bild noch „besser“ aus: 88,49% der Schulen finden sich den Stufen 1 und 2, 0,0% in den Stufen 8 und 9.
Auch bei den Gesamtschulen finden sich 50,0% der Schulen in den Stufen 1 und 2 und 0.0% in den Stufen 8 und 9.
Der landesweite Trend findet sich auch für die Herner Schulen wieder: Bei den 5 Herner Gymnasien finden sich z.B. 1x Stufe 1, 3x Stufe 2, und 1x Stufe 3, die 3 Gesamtschulen „landen“ in den Stufen 2,3 und 4.
Wer dies sieht, kann zu dem Schluss kommen, alles sei wunderbar, die Schulen scheinen paradiesische Bedingungen zu haben und lediglich leichtere, kleinere Herausforderungen. Man kann sich förmlich vorstellen, wie das Bildungsministerium sich die Hände reibt – „guckt, wir haben sie wirklich, die „weltbeste Bildung“, die wir Euch versprochen hatten“ oder zumindest die Bedingungen dafür, weniger verwunderlich ist allerdings, dass das MSB als Auftrageberin des Index einige Dinge in der Statistik entschieden hat, die genau diese Bild produzieren können .
Die Menschen aus der Praxis hingegen kommen aus dem Kopfschütteln nicht heraus, denn das oben Beschriebene kommt nicht einmal im Ansatz den täglichen Erfahrungen der KuK in den Schulen nahe. Wie kann man diese unfassbare Diskrepanz zwischen der Statistik und den Gegebenheiten des Alltags erklären? Im Wesentlichen durch statistische Gründe – wir versuchen, zu vereinfachen:
Man stelle sich vor, man würde einen 100m- Lauf durchführen, an dem 4158 Läufer*innen teilnehmen. Alle Läufer*innen sind unterschiedlich stark mit Steinen auf dem Rücken beladen. Zudem wird einer der Läufer*innen vor dem Start mit seinen Schuhen an der Startlinie festgenagelt. Dann der Startschuss … alle rennen los, so schnell es geht und so gut es die Steine auf dem Rücken zulassen. Als die ersten an der Ziellinie ankommen, wird aus einem Helikopter von oben ein Zielfoto geschossen. Auf diesem teilt man die gelaufenen 100 Meter in 9 gleich große Abschnitte, quasi Stufen, ein. Was wird man auf dem Foto sehen?
Man wird einen einzigen Läufer am Start erkennen, und je weiter man zum Ziel kommt, desto stärker wird sich ein riesiger „Klumpen“ von Läufern finden, bei denen kaum zu unterscheiden ist, ob der eine ein paar Zentimeter weiter am Ziel ist oder weniger. Man könnte das Bild dort, wo ganz viele Läufer*innen sind, stark vergrößern, aber dann würde man den Bereich der Startlinie mit dem „Festgenagelten“ nicht mehr sehen können. Will man also ALLE Läuferinnen sehen, muss das Bild in den zielnahen Bereichen sehr „klumpig“ bleiben. ABER BEDEUTET DAS, DASS DIE LÄUFER*INNEN, DIE IN DEN BEREICH 1, 2 ODER 3 GEKOMMEN SIND, KEINE PROBLEME MIT DEN ZU TRAGENDEN STEINEN HATTEN? Natürlich nicht!
Die Parallelen zu den Messungen des schulscharfen Index sind die Folgenden: Die Belastungen unter den genannten obigen 4 Messkriterien wurden mittels einer Bepunktungsskala von 0 bis 100 ermittelt. Die insgesamt 100 Punkte wurden in 9 gleich große Stufen eingeteilt. Eine Schule also, die ausschließlich SuS hat, deren Familien gleichzeitig Sozialhilfe beziehen und nicht Deutsch sprechen, die aus dem Ausland zugezogen sind und einen amtlich ermittelten Förderbedarf z.B. im Bereich „geistige Entwicklung“ haben, bekommt die 100 Punkte. Tatsächlich gibt es Schulen, die diesem Szenario relativ nahe kommen – denn es gibt 4 Hauptschulen in NRW, die in Stufe 9 gelandet sind – aber diese doppelt und dreifache vollständige Korrelation ist äußrest selten. Tatsächlich gibt es mehr Schulen, die – auch aufgrund der Anwahl durch die Eltern aus eher „priveligierten“, „bildungsnahen“ Milieus - keine oder nur wenige Kinder bei sich haben, die diese Aspekte mit sich bringen. Und so kommt es, dass sich – statistisch sauber ermittelt – im oberen Bereich „Klumpen“ bilden, also relativ viele Schulen in den Indexstufen dort landen und in den unteren Bereichen (8 und 9) nur sehr wenige. Auch Professor Schräpler, der mit dem ZEFIR an der RUB den Index federführend entwickelt hat, weist warnend und explizit darauf hin, dass DIE STUFEN 2, 3 ODER 4 EBEN NICHT BELASTUNGSFREIHEIT BEDEUTEN – auch diese Schulen tragen bisweilen extrem „schwere Steine auf ihrem Rücken“. Will man aber die Schulen mit annähernd 100 Belastungspunkten statistisch mit darstellen und wählt man bestimmte statistische Entscheidungen, wird es eben oben in den Stufen „eng“. Dass dabei dann Schulen aus Schulformen, die qua „Anordnung“ des MSB gar nicht an bestimmten der oft äußerst schwierigen Aufgaben wie z.B. der Inklusion beteiligt sind (also Gymnasien) auch nicht selten hinter den Schulformen landen, die diese Aufgaben alleine schultern (z.B. Gesamtschulen), macht die Betroffenen ungläubig und fassungslos.

Die Ergebnisse der Messungen für die Schulen in Herne

Für Herne bedeutet dies z.B., dass die 3 Gesamtschulen, die seit Jahren schon immer wieder ca. 250 „weggeschulte“ Kinder aufgenommen haben und ihre SuS in aufgestellten Containern unterrichten (bei nahezu nicht vorhandenen ausgebildeten Sonderpädagog*innen), nun im Sozialindex teilweise hinter oder neben den „abgebenden“ Schulen landen.
Für die zukünftige Realität tatsächlich dramatisch wird es nun, wenn man sich die wahrscheinlichen Folgen der Indexeinstufungern (auch für Herne) ansieht: Mit der Einteilung der Schulen in die Sozialindexstufen werden ab dem Schuljahr 2021/22 Zuweisungen von Lehrer- und auch Sozialpädagog*innenstellen verknüpft. Diese Stellen sollen ab Stufe 3 oder 4 verteilt werden.
In einer Zeit, in der äußerst viele Kolleg*innen auch in Herne absolut am Limit und darüber hinaus versuchen, den Kindern ihrer Klassen mit eben auch traumatisierten und psychisch kranken, teilweise nicht deutschsprachigen, nicht alphabetisierten Hintergründen aus nicht selten äußerst erziehungsschwachen Familien in prekären Lebenslagen mit teilweise fehlenden Wert- und Normorientierungen und nicht oder kaum vorhandenen Selbstkompetenzen so gut es irgend geht zu helfen auf ihrem oft sehr sehr steinigen Weg ins Leben, erscheint diese Perspektive unglaublich und absolut fatal.
Während weiterhin nicht wenige Kolleg*innen einfach umfallen unter den Aufgaben und viele der den Schulen anvertrauten Kinder gleich mit, wird das Bildungsministerium das, was die Sozialindexeingruppierung  vordergründig ABER EBEN FALSCH auf den ersten Blick suggeriert, als vollen Erfolg feiern („54,7% der Schulen in NRW optimal aufgestellt“).
Es kann offensichtlich immer doch noch schlimmer kommen …

Forderung: Anpassung des schulscharfen Sozialindex dringend nötig

Dieser schulscharfe Sozialindex muss dringend angepasst und verändert werden, will man nicht, dass zukünftig immer und immer weiter und immer mehr und mehr die Schwächsten in der Gesellschaft verlieren !!!
Und mehr noch: Es muss endlich dringend grundsätzlich umgedacht werden. Wir müssen auf das schauen, was jedes einzelne Kind braucht, um in ein gelingendes, einzigartiges, erfülltes Leben zu kommen – DAS, WAS JEDES KIND BRAUCHT, HAT ES ZU ERHALTEN - Punkt !!! Es hilft den vor uns sitzenden Kindern mit ihren oft tiefen Wunden in den kleinen Seelen nicht, dass ihre Schule in Sozialindexstufe 2 oder 3 eingruppiert wurde …

Carsten Piechnik
Mitglied des Vorstandsvorsitzenden- Teams der GEW- Herne